Cover
Titel
1961 - Mauerbau und Außenpolitik. "Die Ironie der Geschichte: Flucht: Motiv des Mauerbaus, Flucht: Motiv des Mauerfalls"


Herausgeber
Timmermann, Heiner
Reihe
Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen 102
Erschienen
Münster 2002: LIT Verlag
Anzahl Seiten
407 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Henning Pietzsch, Berlin

Der Herausgeber, Heiner Timmermann, ist Direktor des Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts der Europäischen Akademie Otzenhausen, Professor für europäische Geschichte an der Universität Jena und Verfasser und Herausgeber zahlreicher Bücher, Schriften und Aufsätze zu historisch - politischen Themen.

Der Untertitel impliziert die These, dass die Fluchtbewegung aus der DDR in den Westen entscheidender Auslöser für den Mauerbau und für den Mauerfall war. Tatsächlich befasst sich der Sammelband aber viel weitgehender mit den innen- wie außenpolitischen Ursachen und Folgen des Mauerbaus. Neben der politischen Dimension der Ursachen und Folgen kommen in dem Sammelband auch die direkten Folgen für die Menschen, und hier vor allem in Berlin, zur Sprache.

Diesen und weiteren Fragen geht das Buch in einer erstaunlichen Breite nach. In sieben Kapitel unterteilt befassen sich fünfundzwanzig Autoren aus Deutschland, Russland, den USA sowie weitere aus West- und Osteuropa aber auch China mit dem Thema. Leider fehlt ein Autorenverzeichnis. Der Sammelband ist thematisch geordnet. Nach der Einleitung und einer Einführung (S. 11-28) befasst sich ein Kapitel mit dem politischen Umfeld und den Voraussetzungen für den Mauerbau (S. 29-102). Neben dem Berlin-Ultimatum Chruschtschows vom November 1958 werden hier dessen innen- und außenpolitischen Bedeutung untersucht.

Im vierten und fünften Kapitel werden die bündnispolitischen und militärischen Planungen von NATO und USA (Contingency Plans) sowie die Hintergründe und Fakten aus Sicht des amerikanischen und russischen Geheimdienstes beleuchtet (S. 103- 150). Das sechste Kapitel nimmt den meisten Raum ein und erschließt die Reaktionen auf den Mauerbau in verschiedenen europäischen Ländern. Eine Besonderheit dürften in diesem Zusammenhang die Sicht Chinas und der Dritten Welt sein (S. 151-308). Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit den Auswirkungen auf die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Im Anhang des Buches ist die Niederschrift über das Wiener Gipfeltreffen zwischen Kennedy und Chruschtschow vom Juni 1961 in deutscher Sprache abgedruckt.

Die Errichtung der Berliner Mauer 1961 war ohne Zweifel neben dem 17. Juni 1953 und ihrem Fall am 9. November 1989 das spektakulärste politische Ereignis in der deutschen Geschichte nach 1945. Die Ursachen und Folgen werden von der Geschichtswissenschaft dem Kalten Krieg zugeschrieben und stehen im unmittelbaren Zusammenhang mit der zweiten Berlin-Krise 1958. Dem Herausgeber des Sammelbandes drängt sich in seiner Einführung des Buches die provokatorische Frage auf, „ob man [es] nicht den Geheimdiensten verdanken müsse, dass aus dem kalten Krieg kein heißer wurde“(S. 12). Diese unvermittelte Frage muss zunächst insofern Anlass zum Nachdenken geben, als gerade die Geheimdienste, und hier insbesondere der amerikanische, für mehr als einen politischen Putsch oder Krieg verantwortlich zeichnen, und sicher auch heute nicht ausschließlich die Rolle von Friedensstiftern einnehmen. Auf der anderen Seite hat diese fast nebensächlich aufgeworfene Frage Bedeutung, weil damit angedeutet wird, dass zum Zeitpunkt des Mauerbaus jede Seite über die jeweils andere so informiert war, dass der Gefahr eines übergreifenden Flächenbrandes vorgebeugt werden konnte.

Auf der politischen Bühne hat sich die DDR langfristig mit dem Mauerbau gegen die ursprünglichen politischen Interessen der Sowjetunion und Stalins Anfang der fünfziger Jahre durchgesetzt (58 ff.). Die Berlin-Krise 1958 verstärkte die Hoffnungen Ulbrichts auf eine baldige Abriegelung der bestehenden Grenzen, weil immer deutlicher wurde, dass eine offene Grenze das personelle Ausbluten der DDR nach sich ziehen würde (S. 23). Das ursprüngliche Ziel Chruschtschows, die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands über den Weg eines innerdeutschen Systemwettbewerbs zu entscheiden, erfüllte sich aber erst 1989 entgültig zu Ungunsten des realen Sozialismus. „Noch auf der Warschauer-Pakt Tagung vom August 1961, auf der dann die Schließung der Sektorengrenze beschlossen wurde, ließ Chruschtschow die Präferenz für eine „offene Stadt“ Berlin erkennen.

Anderer Ansicht war seit jeher Ulbricht. Er hatte schon 1952 eine Abriegelung Ost-Berlins vom Westteil der Stadt gefordert [...]“, um die Massenflucht aus der DDR zu stoppen ( S. 41). Dies war zunächst für Chruschtschow, der bis zuletzt den „freien Wettbewerb der Systeme“ favorisierte, kein zwingender Grund für die Zustimmung zum Bau der Mauer. Er setzte mit seinem Berlin-Ultimatum von 1958 auf die Kontrolle aller Wege von und nach West-Berlin, scheiterte jedoch damit, weil sich auch für ihn letztlich erwies, dass ein Abriegeln der Sektorengrenze das kleinere Übel darstellte gegenüber einer offenen Konfrontation mit dem Westen. Zudem verdeutlichte die Auseinandersetzung der beiden Systeme in Deutschland seit Anfang der sechziger Jahre die Gefahr des wirtschaftlichen und politischen Scheiterns der DDR im offenen Wettbewerb.

Die Kombination aus materieller Hilfe und Mauerbau sollte deshalb langfristig den Bestand der DDR sichern. Chruschtschows Entscheidung für die Zustimmung zum Mauerbau ist vor diesem Hintergrund zu sehen (S. 42). Der Bau der Mauer hatte den Zweck der Sicherung der DDR, um die „Abstimmung mit den Füßen“ zu verhindern, erreicht (S. 45). In dieser Frage herrschte zwischen den Machthabern in Ostberlin und Moskau Übereinstimmung. Der Mauerbau bedeutete neben der innenpolitischen Sicherung der DDR aber vor allem die unauflösliche außenpolitische Verankerung im Bündnis mit der Sowjetunion.

Für das westliche Bündnis wie für die übrige Welt vollzog sich der Mauerbau überraschend, konnte aber angesichts der Zuspitzung des Kalten Krieges kaum verwundern. Matthias Uhl untersucht in seinem Beitrag die militärische Planung Moskaus und Ost-Berlins für die Grenzschließung. Er geht davon aus, dass die sowjetischen Streitkräfte dabei eine weit größere Rolle spielten, als bisher angenommen worden war. Doch habe Chruschtschow bis 1961 erkennen müssen, dass sich die militärisch-strategische und politische Lage der Sowjetunion in der Welt zu seinen Ungunsten entwickelte. Der letzte Trumpf hieß deshalb Berlin (S. 59). Mit politischem Druck auf die USA in der Frage Berlins, hoffte er die Lage in seinem Sinne verändern zu können (S. 84). Eine militärische Lösung kam aber nicht in Frage. Die Erkenntnis über die eigene wirtschaftliche wie militärische Schwäche bewirkte eine Abkehr von der bisher rein konfrontativen und offensiven Politik beider Seiten. Ein entscheidendes Moment für die Erkenntnis Chruschtschows war dessen Zusammentreffen mit dem neuen Präsidenten der USA, John F. Kennedy, den Chruschtschow in überheblicher Manier für leicht beeinflussbar hielt, und den er seinem rhetorischen Druck nicht gewachsen glaubte (S. 76 f., S. 341 ff.).

Im Weiteren wird in den folgenden Beiträgen ausgeführt, welche Strategien und Ziele die USA und ihre westlichen Bündnispartner verfolgten, welche Übereinstimmung und Gegensätze das gemeinsame Verhältnis prägten, und wie der Bau der Mauer weltweit aufgenommen wurde. Hervorzuheben sind hierbei die Beiträge zur Rolle der NATO und der beiden Geheimdienste CIA und KGB. Sie erlauben einen Einblick in deren Strategie und die Wirksamkeit geheimdienstlicher Methoden (S. 103-150).1

Während sich die Bündnispartner der NATO im Wesentlichen in ihrer Politik gegenüber der Sowjetunion einig waren, lagen die Zielsetzungen der USA und der Bundesrepublik nicht immer auf einer gemeinsamen Linie (S. 47). Die Entspannungspolitik der Bundesrepublik bildete sich deshalb erst allmählich und zum Teil unter dem Druck der USA heraus (S. 47). Sie blieb aber wie der Mauerbau 1961 für viele Menschen bis zum Mauerfall 1989 ein Vehikel der politischen „Großwetterlage“. Erst die von der Mehrheit der DDR-Bevölkerung erzwungene „Wende“ beschleunigte entgültig den Zusammenbruch des „realsozialistischen Systems“ im „Spätsozialismus“ (S. 45).

Im Rückblick bezeichnet der ehemalige Ständige Vertreter der DDR in der Bundesrepublik Deutschland, Hans Voss, den Mauerbau als ein Armutszeugnis der DDR (S. 13). Für viele Menschen zerbrach an diesem Tag die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung. Für die Machthaber in der DDR war es dagegen ein Akt der innenpolitischen Stabilisierung, ohne den sie keine politische Überlebenschance gehabt hätten (S. 13). Gleichzeitig diente die Mauer als ein offensives politisches Instrument im Kampf um internationale Anerkennung, und damit als Instrument der Spaltung Deutschlands (S. 25). Der „antifaschistische Schutzwall“ firmierte damit in der Tat als „existentielle Grundlage der DDR“( S. 46). In einem DDR Schulbuch von 1977 heißt es dazu: „Die Errichtung des antifaschistischen Schutzwalls, die in schnellem Tempo erfolgte, hatte die Westmächte, die BRD-Regierung und den Westberliner Senat völlig überrascht. Durch die Sicherung der Staatsgrenze war es nun nicht mehr möglich, die Werktätigen um die Früchte ihrer eigenen Arbeit zu bringen und die DDR ungestraft auszuplündern.“2

Der vorliegende Sammelband ist ein empfehlenswertes Buch, das für die weitere Forschung zum Mauerbau und seinen Folgen wichtige Impulse gibt.

Anmerkungen:
1 Irritierend wirkt in diesem Zusammenhang unabhängig von dem zulässigen Anspruch auf Internationalität die Tatsache, dass zwei amerikanische Beiträge zum „Contingency Plans“ nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Es drängt sich die Frage nach dem Sinn dieser Regelung auf, wenn offenbar die zahlreichen anderen internationalen Autoren übersetzt wurden.
2 Geschichte. Lehrbuch für Klasse 10, 1. Aufl., Berlin 1977, S.162 f.

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